Aus der Corona-Delle darf kein Knick werden!
Wie hat sich die Fitness der Kinder im Land in den letzten zehn Jahren verändert und welche Trends lassen sich nach zwei Jahren Pandemie erkennen? Seit zehn Jahren wertet die Kinderturnstiftung Baden-Württemberg Daten des Motorik-Test für Kinder (KITT+ 3-10) aus, die Sportfachkräfte und pädagogische Fachkräfte im Rahmen der Initiative „Turnbeutelbande“ sammeln. Auf Grundlage dieser – anonymisiert ausgewerteten – Daten veröffentlicht die Stiftung seit vier Jahren in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Klaus Bös und dem Forscherteam um Dr. Claudia Niessner vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) jährlich den Fitnessbarometer und ermittelt den Fitness-Stand der Kinder in Baden-Württemberg. Heute wurden die Daten in Stuttgart offiziell vorgestellt.
Die positiven Wirkungen von Bewegung und Fitness auf die körperliche, psychische, soziale sowie auch emotionale Gesundheit sind vielfältig belegt. Und trotzdem veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Anfang Mai den neuen Adipositasbericht mit erschreckenden Zahlen. Demnach haben Übergewicht und Fettleibigkeit nach WHO-Angaben in Europa inzwischen „epidemische Ausmaße“ angenommen. Bewegungsmangel ist einer der Gründe für Übergewicht und Fettleibigkeit. Die Rufe von Wissenschaftlern und unterschiedlichen (Sport-)Organisationen nach einem „Bewegungsgipfel“ oder einem „Bewegungspakt“ werden lauter. Zudem zeigt die MoMo-Studie, dass die WHO-Bewegungsempfehlungen weder von Kindern noch von Erwachsenen ausreichend erfüllt werden. Wie es konkret um die Fitness der Kinder in Baden-Württemberg steht, das ermittelt die Kinderturnstiftung Baden-Württemberg jährlich mit dem Fitnessbarometer.
Einbruch im Fitness-Gesamtwert
„Im Vergleich mit dem bundesdeutschen Durchschnitt ist festzustellen: Die Kinder in Baden-Württemberg sind 2021 noch immer fitter als der Durchschnitt. Wir dürfen jetzt aber nicht in Euphorie ausbrechen, denn: Das Niveau ist gleichbleibend niedrig“, so Prof. Dr. Klaus Bös, Distinguished Senior Fellow am KIT. Vergleicht man die Daten vor Corona (2012 – 2019) mit den Daten aus den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021, zeigt sich ein Einbruch des Fitness-Gesamtwerts. „Die Daten sind eine Momentaufnahme. Wie sich die Corona-Pandemie tatsächlich langfristig auf die Fitness unserer Kinder auswirkt, das können wir erst in ein paar Jahren sehen.“
Betrachtet man den Fitness-Stand der getesteten Kinder der vergangenen zehn Jahre, so sind die Kinder in Baden-Württemberg sieben Prozent fitter als der bundesdeutsche Durchschnitt – bei niedrigem Gesamtniveau. Für die beiden Corona-Jahre zeigt sich im Vergleich zu den Jahren davor: Der Fitness-Gesamtwert ist während Corona eingebrochen: Die Kinder sind tendenziell langsamer und weniger ausdauernd als vor Corona und auch die koordinativen Fähigkeiten verschlechtern sich.
Corona-Delle oder Corona-Knick?
Der Wert der Beweglichkeit stagniert im Vergleich. Aber auch die leicht positive Tendenz, die im Fitnessbarometer 2021 im Fähigkeitsbereich Kraft festgestellt wurde, bestätigt sich in den aktuellen Werten. „Während Corona fand kein angeleiteter Sport in den Turn- und Sportverein oder im Schulsport statt, der so wichtig für die Förderung von Ausdauer und Schnelligkeit, aber auch für das soziale Gefüge und damit unser allgemeines Wohlbefinden ist. Gleichzeitig wurde die Freizeit und der Alltag zuhause mit der Familie aktiver gestaltet, Spaziergänge und Fahrradtouren standen hoch im Kurs“, so Susanne Weimann, geschäftsführender Vorstand der Stiftung. In den Lockdowns konnten eher kräftigende Übungen auf kleinem Raum durchgeführt werden. „Stellen Sie sich vor, wir könnten den Zustand des aktiven Familienlebens beibehalten und zusätzlich wieder die angeleiteten Sport- und Bewegungsstunden in Turn- und Sportvereinen sowie in den Bildungseinrichtungen Kita und Schule wahrnehmen. Dann wäre ein großer Schritt gegen den akuten Bewegungsmangel getan. Das sollte unser Ziel sein“, so die Sportwissenschaftlerin weiter.
Die Auswirkungen der Pandemie werden erst in ein paar Jahren erkennbar sein. „Um entscheiden zu können, ob sich die beobachteten negativen Trends bestätigen, ist für die folgenden Barometer eine solide Datengrundlage von 5.000 Daten erforderlich. Dann kann festgestellt werden, ob es sich bei den Trends lediglich um eine Corona-Delle handelt – oder ob sie bereits einen Corona-Knick anzeigen“, betont Prof. Dr. Klaus Bös im Rahmen seiner Vorstellung der Ergebnisse am Donnerstag im Sport Stuttgart.
Viel hilft viel
Dass Bewegungsförderung von Klein auf und kommunal gedacht positive Effekte hat, zeigt der Schnitt über zehn Jahre hinweg. Seit zehn Jahren stellt die Stiftung den Motorik-Test für Kinder und die dazugehörige digitale Auswertungsplattform kostenfrei zur Verfügung. Die Gemeinde Michelfeld ist als Modellgemeinde von Anfang an dabei. „Wir erhalten durch die regelmäßigen Testungen wertvolle Erkenntnisse für eine wirkungsvolle Gestaltung gezielter, alltagsintegrierter Bewegungsförderung mit nachhaltigem Erfolg über die gesamte Kindergarten- und Grundschulzeit hinweg“, so Bürgermeister Wolfgang Binnig. „Michelfeld ist eine der Kommunen, die seit zehn Jahren testet und Bewegungsförderung mit zusätzlichen Projekten und Fortbildungen ergänzt. Das sieht man an den Werten, die überdurchschnittlich gut sind“, fasst Prof. Dr. Klaus Bös zusammen. Viel – und möglichst langfristig – hilft also beim Thema Bewegungsförderung auch wirklich viel. „Man wird ja auch nicht von heute auf morgen adipös oder sehr fit. Es muss nachhaltig verankerte Angebote in der Kommune und in den kommunalen Einrichtungen geben, die miteinander vernetzt sind“, schließt der Sportwissenschaftler.
Gemeinsam gegen den Bewegungsmangel
Nachhaltige Bewegungsförderung ist Teamwork und bedarf einer strategischen Planung sowie eines gemeinschaftlichen Engagements, wie in der anschließenden Podiumsdiskussion deutlich wurde. Lennert Brinkhoff, SWR-Sportmoderator und Botschafter der Initiative „Turnbeutelbande – Motorik-Test für Kinder“ sprach mit
• Volker Schebesta MdL, Staatssekretär im Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg
• Wolfgang Binnig, Bürgermeister der Gemeinde Michelfeld
• Tina Haas, Konrektorin Fünf-Täler-Schule Calmbach
• Harald Link, Vereinsmanager SV Böblingen und STB-Vizepräsident Verbandsentwicklung
über die Erfolgsfaktoren für gelingende Bewegungsförderung von Kindern. „Damit aus der Corona-Delle, die wieder ausgeglichen werden kann, kein rapider Knick wird, müssen wir jetzt alle gemeinsam anpacken. In den Kitas und Grundschulen mit möglichst viel bewegungsfördernden Maßnahmen im Alltag, zum Beispiel durch Kooperationen mit Turn- und Sportvereinen. In den Kommunen, mit einem pro-aktiven Umgang mit Bewegungsförderung, sei es in der festen Verankerung des Themas in der kommunalen Planung sowie in der Vernetzung der örtlichen Institutionen. Und politisch mit möglichst vielfältigen, auf die Zielgruppe zugeschnittenen Unterstützungsangeboten“, so der Grundtenor der Diskussion. Die Herausforderung wird sein, dass das Wissen über bereits vorhandene Strukturen, bewegungsfördernde Maßnahmen und Unterstützungsmöglichkeiten bei den Zielgruppen ankommen und dass genug Sportfachkräfte in den Bildungseinrichtungen und Vereinen zur Verfügung stehen. Das Bewusstsein für die Bedeutung von Bewegung für ein gesundes Aufwachsen ist dabei essenziell.
HIER geht es zum Factsheet mit der ausführlichen Darstellung der Ergebnisse.